ein Baby, das aus einer Flasche trinkt

Gewichtsentwicklung bei Frühgeborenen

8 Minuten

Rasches Aufholwachstum – ein zweischneidiges Schwert?

Welcher Parameter ist am besten geeignet, um die Ernährungssituation von Frühgeborenen zu beurteilen? Man ist geneigt, diese Frage spontan mit „Gewichtszunahme und Wachstum“ zu beantworten. Dem widersprach Neena Modi, London, vehement: „Das ist ein falscher, sogar ein schlechter Parameter.“ Sie stützte ihre Auffassung auf triftige Argumente. Wie sich die Gewichtsproblematik extrem unreifer Frühgeborener im Jugendalter fortsetzt, dazu präsentierte Juliane Spiegler, Lübeck, spannende Daten der britischen Milleniums-Studie. Einig waren sich beide, dass Muttermilch mit Abstand die beste Ernährung für Frühgeborene ist – ein Fakt, der aus Matthias Heckmann einen entschiedenen Verfechter von Frauenmilchbanken gemacht hat: Seit in seiner Klinik in Greifswald grundsätzlich mit Spendermilch zugefüttert wird, haben sich die Infektions- und NEC-Raten dort halbiert.

 

Die meisten Frühgeborenen sind bei ihrer Geburt nicht nur zu früh, sondern auch in Relation zu ihrem Gestationsalter zu leicht. „Das ist keine Überraschung: Wenn ein Kind zu früh zur Welt kommt, heißt das in aller Regel, dass in der Schwangerschaft etwas schiefgelaufen ist – das merkt man zuerst am Wachstum“, so Modi. Mit dieser Wachstumsrestriktion kann man auf zwei verschiedene Arten umgehen (vgl. Abb. 2):

  • Man kann alles daran setzen, dass das Frühgeborene seinen Wachstumsrückstand wieder aufholt. Dazu wäre allerdings eine extrem hohe Wachstumsgeschwindigkeit erforderlich, die die „normale“ intrauterine Wachstumsrate übersteigt.
  • Möchte man hingegen, dass das Frühgeborene mit der gleichen Geschwindigkeit wächst wie ein intrauteriner Fetus, bleibt es in seiner niedrigen Gewichtsperzentile, sodass man in Kauf nehmen muss, dass es zum Zeitpunkt des errechneten Geburtstermins noch immerdeutlich leichter und kleiner ist als ein reifgeborenes Kind.

Wie Modi schilderte, hat sich eine Unmenge an Studien bei allen möglichen Spezies bereits mit der postnatalen Wachstumsgeschwindigkeit auseinandergesetzt. Die Ergebnisse haben einen gemeinsamen Nenner: Stets war eine langsamere Wachstumsgeschwindigkeit mit einer längeren Lebensdauer und einem gesünderen Alter assoziiert, während ein beschleunigtes Wachstum in frühester Kindheit den gegenteiligen Effekt hatte.

 

Es ist bekannt, dass überlebende Frühgeborene stärker gefährdet sind, ein metabolisches Syndrom zu entwickeln. Doch bislang unveröffentlichten Daten zufolge gibt es darüber hinaus Anzeichen, dass ehemalige Frühgeborene im jungen Erwachsenenalter auf molekularer Ebene eine beschleunigte Alterung zeigen, erläuterte Modi. „Wir gehen immer davon aus, dass es gut ist, wenn unsere Frühgeborenen möglichst rasch wachsen – aber das stimmt vielleicht gar nicht.“

 

Den Einwand, dass ein verzögertes Wachstum bei Frühgeborenen mit einer ungünstigeren neurokognitiven Entwicklung assoziiert ist, lässt Modi nicht gelten: „Wir wissen alle, dass eine Assoziation per se keinen kausalen Zusammenhang bedingt. Es gibt keine einzige randomisierte Studie, die belegt, dass ein rasches Aufholwachstum bei Frühgeborenen die neurokognitive Entwicklung begünstigt“, argumentiert sie. „Natürlich ist Unterernährung ungünstig für die Hirnentwicklung. Aber wir reden hier nicht von Unterernährung!“

Gestillte Kinder wachsen langsamer

Fakt ist: Wir wissen nicht, welches Wachstumsmuster für Frühgeborene das Beste ist. Seit der Multicentre Growth Reference Study der WHO¹⁻² ist bekannt, dass voll gestillte Kinder langsamer wachsen als solche, die Formula-Nahrung erhalten, und dass sie langfristig eine bessere neurokognitive Entwicklungzeigen. Daher darf man die Wachstumsgeschwindigkeit keinesfalls als Surrogatparameter für die neurokognitive Entwicklung betrachten, warnte Modi.

 

Doch wenn die Gewichtszunahme und Wachstumsgeschwindigkeit als OutcomeParameter ungeeignet sind – welche sind dann günstiger? „Wir sollten uns stärker auf andere Dinge konzentrieren, die wir durch die Ernährung des Frühgeborenen beeinflussen.“ Dazu gehören neben unmittelbaren Problemen wie nekrotisierende Enterokolitis (NEC), Sepsis oder bronchopulmonale Dysplasie (BPD) vor allem die neurokognitive Entwicklung des Kindes oder – wenn man noch langfristiger denkt – auch mögliche kardiometabolische Probleme im Erwachsenenalter. „All dies wird durch die Ernährung beeinflusst – das sollten auch unsere Outcome-Parameter für Ernährungsstudien widerspiegeln.“

Erst extrem unreif, dann zu dick?

Dass das Wachstum von Frühgeborenen anders verläuft als das von Reifgeborenen, zeigt die britische Millenium Cohort Study, in deren Rahmen über 18.000 Kinder aus dem gesamten Vereinigten Königreich zu unterschiedlichen Zeitpunkten nachuntersucht worden sind. Aus diesen Daten lassen sich Body-Mass-Index-Kurven erstellen, die zeigen, dass „späte“ Frühgeborene und Reifgeborene eine sehr ähnliche Körpergewichtsentwicklung zeigen, während die moderat Frühgeborenen durchweg etwas kleiner sind. Im Gegensatz dazu nehmen die sehr unreifen Frühgeborenen, die mit dem geringsten Körpergewicht von allen gestartet sind, ab etwa dem achten Lebensjahr deutlich zu und haben mit 14 Jahren im Durchschnitt das gleiche Gewicht wie ihre reifgeborenen Altersgenossen. „Das sehen wir häufig nicht, weil die Frühgeborenen in diesem Alter nicht mehr zu unseren Nachsorgeuntersuchungen kommen“, sagte Juliane Spiegler. Momentan läuft die Nachuntersuchung der 17-jährigen Milleniums-Kinder. „Es wird sich zeigen, ob sich die Gewichtsentwicklung fortsetzt und die extrem Frühgeborenen mit 17 dicker sind als die Reifgeborenen“, ist Spiegler gespannt.

 

Betrachtet man die Daten aus dem deutschen Frühgeborenen-Netzwerk (GNN), in dem Frühgeborene mit weniger als 1.500 Gramm Geburtsgewicht (very low birth weight; VLBW) nachbeobachtet werden, so sieht man, dass Kinder, die gestillt wurden, bei Geburt ein kleines bisschen kräftiger waren als diejenigen, die nicht gestillt wurden. „Möglicherweise möchte man bei den nicht gestillten Kindern, dass sie schneller wachsen, und greift deshalb zur Formula-Nahrung“, mutmaßte Spiegler. Bei der Entlassung zeigen die gestillten Kinder im Vergleich zu den nicht gestillten ein signifikant größeres, aber klinisch nicht relevantes Wachstumsdefizit – „ihre extrauterine Wachstumsrestriktion ist offensichtlich etwas ausgeprägter.“ Im Alter von zwei und fünf Jahren ist von diesem Unterschied jedoch nichts mehr zu sehen. Auch der Zeitpunkt der Beikost-Einführung hatte auf das Gewicht mit zwei und fünf Jahren höchstens unerheblichen Einfluss.

 

Zeitpunkt der Beikost-Einführung ohne Belang

Die GNN-Daten zeigen außerdem, dass Stillen für die Intelligenzentwicklung förderlich ist: Selbst wenn man den mütterlichen IQ korrigiert, erreichen gestillte Kinder im Alter von fünf Jahren im Schnitt 2,6 Punkte mehr auf der IQ-Skala als „Flaschen-Babys“,³ – vorausgesetzt, dass sie mindestens drei Monate lang gestillt wurden. In welchem Monat Beikost eingeführt wurde, war dagegen für den IQ völlig ohne Belang – ebenso wie die Unterscheidung, ob gemüse- oder fleischhaltiger Brei verfüttert wurde. „Wenn es um die Beikost geht, können wir also in der Beratung der Eltern sehr neutral sein und den Weg mitgehen, den sie am liebsten einschlagen wollen“, so Spieglers Fazit.

GNN: Nur jedes siebte Frühgeborene wird voll gestillt

Die Daten mehren sich, dass Muttermilch auch zur NEC-Prävention einen entscheidenden Beitrag leisten kann. Dies in einer klassischen randomisierten Studie zu prüfen, gestaltet sich allerdings naturgemäß schwierig: „Man kann Mütter ja nicht per Randomisierung vorschreiben, ob sie stillen müssen oder nicht stillen dürfen“, so Matthias Heckmann, Greifswald. Doch die Beobachtungsdaten des GNN sprechen eine deutliche Sprache: So entwickelten Frühgeborene, die exklusiv mit FormulaMilch gefüttert worden waren, mehr als 12-mal so oft eine NEC im Vergleich zu Kindern mit ausschließlicher MuttermilchErnährung (s. Tab. 1).⁴

TAB. I: RISIKO FÜR AUSSCHLIESSLICH ODER MIT FORMULA-NAHRUNG ZUGEFÜTTERTE FRÜHGEBORENE, AN NEC, BPD UND ROP ZU ERKRANKEN IM VERGLEICH ZUR REINEN MUTTERMILCH-ERNÄHRUNG*

                                    

Ernährung

Odds ratio

Konfidenzintervall

 

 

 

Nekrotisierende Enterokolitis (NEC)

Formula + Muttermilch




ausschließlich Formula

3,59




12,86

1,68-7,63




2,84-58,29

 

 

 

Bronchopulmonale Dysplasie (BPD)

Formula + Muttermilch




ausschließlich Formula

1,6 l




2,59

1,15-2,25




1,33-5,04

 

 

 

Frühgeborenen-Retinopathie (ROP)

Formula + Muttermilch




ausschließlich Formula

1,34




1,80

1,02- 1,76




1,05-3,11

* (OR = 1) (nach Spiegler et al. J Pediatr 2016; 169: 76-80)

 

Doch die Stillraten sind gerade bei Frühgeborenen in den letzten Jahren teilweise rückläufig. So ist in einer schwedischen Registerstudie in den Jahren 2004 bis 2013 die Rate der exklusiv mit Muttermilch ernährten extrem unreifen Frühgeborenen (Gestationsalter 22 bis 27 Wochen) von 55 auf magere 16% abgefallen.⁵ Auch im GNN erhält nur etwa jedes siebte Frühgeborene ausschließlich Muttermilch.⁶ Dass da noch Luft nach oben ist, beweist die neonatologische Abteilung der Universitätsklinik in Tennessee/USA: Dort wurde mit einem konsequenten Still-Förderprogramm, das neben einer umfassenden Aufklärung der Mütter prä- und postnatal auch intensive Schulungen des medizinischen Personals sowie die kostenlose Bereitstellung von Milchpumpen von Seiten der Krankenkassen umfasste, die Rate der Muttermilch-ernährten Frühgeborenen innerhalb von fünf Jahren von 22 auf 88% gesteigert.⁷

 

Zufüttern mit Spendermilch statt Formula

Gleichzeitig empfiehlt es sich aber, auch das Netz der Frauenmilchbanken auszubauen, plädierte Heckmann. Kein leichtes Unterfangen, wie er aus eigener Erfahrung weiß. Denn der Aufbau einer Frauenmilchbank birgt eine Vielzahl logistischer Hürden. Und auch wenn alle erforderlichen Prozeduren implementiert und standardisiert sind, ist der zeitliche und finanzielle Aufwand hoch. Insbesondere die Aufklärung der Spenderinnen, die mikrobiologischen Untersuchungen sowie ggf. die Pasteurisierung fallen hier ins Gewicht.⁸

Ein Aufwand, der sich lohnt: In Kalifornien wurde die Anzahl der Frauenmilchbanken in den Jahren 2007 bis 2013 von 22 auf 55 erhöht. Gleichzeitig mit der besseren Verfügbarkeit von Spendermilch ist dort nicht nur die NEC-Rate spürbar gesunken, sondern auch der Anteil der Mütter, die ihre Kinder mit eigener Milch ernähren, ist in fast allen Zentren um ca. 10 % gestiegen (vgl. Abb. 3).⁹ „Das heißt: Der Effekt der Frauenmilchbanken auf ihre ‚unmittelbare Konkurrenz‘ ist positiv“, konstatierte Heckmann. Und er kann die Daten aus eigener Erfahrung bestätigen: Seit in seiner Klinik in Greifswald grundsätzlich mit Spendermilch zugefüttert wird, hat sich dort die NEC-Rate ebenso wie die Infektionsrate halbiert.¹⁰ „Das ist zwar nur ein einfacher, retrospektiver Vergleich, aber die Ernährung ist das Entscheidendste, was wir in dieser Zeit umgestellt haben“, so Heckmann.

Referent: Prof. Dr. Matthias Heckmann, Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsmedizin Greifswald

 

Vortrag: Auf, zu, auf, … haben Muttermilchbanken eine Perspektive?

 

Referenzen

  1. de Onis M, Garza C, Victora CG, et al. The WHO Multicentre Growth Reference Study: planning, study design, and methodology. Food Nutr Bull 2004; 25: S15–26.
  2. WHO Multicentre Growth Reference Study Group. WHO Child Growth Standards based on length/height, weight and age. Acta Paediatr Suppl 2006; 450: 76–85.
  3. Horta BL, Loret de Mola C, Victora CG. Breastfeeding and intelligence: a systematic review and meta-analysis. Acta Paediatr 2015; 104: 14–9.
  4. Spiegler J, Preuß M, Gebauer C, et al. Does breastmilk influence the development of bronchopulmonary dysplasia? J Pediatr 2016; 169: 76–80.
  5. Ericson J, Flacking R, Hellström-Westas L, Eriksson M. Changes in the prevalence of breast feeding in preterm infants discharged from neonatal units: a register study over 10 years. BMJ Open 2016; 6: e012900.
  6. [vgl. 4] Spiegler J, Preuß M, Gebauer C, et al. Does breastmilk influence the development of bronchopulmonary dysplasia? J Pediatr 2016; 169: 76–80.
  7. Dereddy NR, Talati AJ, Smith A, et al. A multipronged approach is associated with improved breast milk feeding rates in very low birth weight infants of an inner-city hospital. J Hum Lact 2015; 31: 43–6.
  8. Fengler J. Kostenanalyse der Ernährung von Frühgeborenen: Eine Analyse der Frauenmilchbank am Beispiel der Universitätsmedizin Greifswald. Springer Gabler; Heidelberg: 2019.
  9. Kantorowska A, Wei JC, Cohen RS, et al. Impact of donor milk availability on breast milk use and necrotizing enterocolitis rates. Pediatrics 2016; 137: e20153123.
  10. [vgl. 8] Fengler J. Kostenanalyse der Ernährung von Frühgeborenen: Eine Analyse der Frauenmilchbank am Beispiel der Universitätsmedizin Greifswald. Springer Gabler; Heidelberg: 2019.

 

Pflichttext Curosurf®

 

 

Pflichttext Peyona®

 

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